Anja: Bauchgefühl

Bauchgefühl

Wir alle kennen es: der Eine vertraut ihm mehr als der Andere, aber im Allgemeinen sollte es immer das letzte Wort haben: das Bauchgefühl!
In allen Bereichen des Lebens ein gepriesener Helfer, so auch im Leben mit Hund.

Auch ich hab schon öfter gesagt, dass es viel weniger Hundeschulen und Hundetrainer bräuchte, wenn die Leute wieder mehr auf ihr Bauchgefühl hören würden, doch so langsam wird mir klar: das ist nicht wahr.

Unser Bauchgefühl ist keine Wunderwaffe.

Was ist es überhaupt, dieses wage Wissen, das wir Bauchgefühl nennen?
Letztlich sind es Emotionen, aber von vorne:

Wir stehen Tag für Tag vor Entscheidungen. Was essen wir zum Frühstück? Was ziehen wir an? Auf den Hund bezogen: Welche Leine und welche Gassistrecke wähle ich? Wie reagiere ich auf das, was mein Hund gerate tut? Sei es das Frühstücksbrot zu klauen, einen anderen Hund anzubellen oder sich zu mir auf die Couch zu kuscheln.

Die Forschungen der jüngsten Zeit zeigen, dass die meisten der alltäglichen Entscheidungen zu einer fast unüberwindbaren Hürde bei Patienten werden, bei denen ein bestimmter Hirnbereich beschädigt ist (der ventromediale präfrontale Cortex – der Frontallappen der Großhirnrinde ).
Wir treffen diese Entscheidungen nicht, indem wir reines Wissen abwiegen, sondern aus einem Gefühl unseres Körpers heraus, dem so genannten Baugefühl.
Vereinfacht gesagt erzeugt der präfrontale Cortex Vorstellungsbilder von jeder Handlungsalternative, diese sind mit Emotionen verknüpft also wie werde ich mich fühlen, wenn diese Vorstellung wahr wird?).
Daraus entstehen fühlbare, physiologische (also körperliche) Reaktionen größerer und kleinerer Art, wie Gänsehaut, Glücksschübe oder auch Magenkrämpfe und Kopfschmerzen.
Hier wird es jetzt noch mal knifflig aber auch wichtig, denn was uns positive Gefühle entwickeln lässt, beruht oft auf Grundmotivationen die uns gar nicht bewusst sein müssen.
Die eine Hunderasse passt zu dem Bild von Mensch, der ich gerne sein möchte, die andere passt besser zu dem, was ich annehme, was sich mein Umfeld wünscht und die dritte wird mir durch medialen Druck nach Perfektionismus schmackhaft gemacht.

Akita’s erzeugen, durch den Film Hachiko bei anderen Menschen ein Bild desjenigen der die Leine hält. So geht es vielen Rassen die in Filmen vorkommen.

Zu was uns jetzt hier unser Bauchgefühl rät, kann ganz unterschiedlich sein. Sind wir geprägt durch das Bild, das wir nach außen tragen oder bekamen wir oft positive Rückmeldungen für ein Ich, das eher gespielt war, oder negatives Feedback, wenn wir nur wir selber waren, dann projiziert das Bild eines Lebens mit einem Hund, das genau in dieses Schein-Ich passt, uns Glücksgefühle, auch wenn wir uns der psychologischen Zusammenhänge gar nicht bewusst sind.
Lebe ich an einem Ort, wo Gerüchte unter Nachbarn zu Handlungen wie das Ausgrenzen der Kinder, Getuschel nach dem Vorbeigehen oder dem Beschmieren von Autos führen, dann löst die Wahl einer Rasse, die zu solchen Gerüchten führen könnte, eine negative Anspannung aus, einen inneren Widerwillen und das Bauchgefühl schlägt zu.
Neben Prägungen von Eltern, Umwelt und sozialem Kontext sind auch die Medien inzwischen perfekte Manipulatoren von Emotionen, liefern sie doch oft die bewegten Bilder der perfekten Welt gleich mit. Eine verführerische Vorlage für den ventromedialen präfrontalen Cortex.

Unsere Motive zum Handeln – unsere Werte – sie beeinflussen uns jeden Tag, aber wie bewusst sind wir uns dieser?
Welche Glaubenssätze prägen mich? Und sind es überhaupt meine eigenen oder sind es die meiner Eltern, der Gesellschaft in der ich lebe oder nie hinterfragte Meinungen, die ich zu meinen Werten werden ließ?

Fragen die für sich zu beantworten sich lohnen.

Doch sicher klingen sie jetzt auch viel zu groß und ungreifbar, deshalb für das Leben mit Hund ein Beispiel:

Ein hundebezogener Glaubenssatz ist „Hunde streben nach der Führerschaft“ und wenn hier jetzt viele denken „Ach Quatsch das glaub ich nicht“ oder „na meiner zum Glück nicht“ dann horcht mal in euch rein, wenn euer Hund euch das Frühstücksei klaut, wenn er den frisch verliebten Partner anknurrt, wenn er nach dem zehn Mal sagen immer noch nicht sitzt, welche Gedanken kommen dann?
Er nimmt mich nicht ernst? Er ist respektlos? Er will klarstellen, dass er das sagen hat?

Das oder ähnliches?
Auf welche Grundangst geht dies zurück? Dass sich der Hund auch in Zukunft in anderen Situationen daneben benimmt und dass wir die Kontrolle – die Führerschaft – verlieren.
Der Himmel ist blau, Hunde stammen vom Wolf ab und leben in Hierarchien – das sind Glaubenssätze, die als Wissen, das nicht hinterfragt wird, in unseren Köpfen ankert.
Zum Thema Himmel ist blau mal was spannendes: https://www.youtube.com/watch?v=r0jXfwPQW9k

Und zum Thema Hund und Wolf: https://www.spass-mit-hund.de/mehr-wissen/die-sache-mit-der-dominanz/wolfsrudel/

Worauf ich hinaus will ist, dass wir das Beste für unseren Hund wollen, dabei ein möglichst konfliktfreies Leben mit der Gesellschaft anstreben und auch noch den ein oder anderen persönlichen Glaubenssatz indoktriniert haben und sich diese Ansätze alle gegenseitig im Weg stehen.
Und so bewertet unser ventromedialer präfrontaler Cortex mitunter eine Entscheidung als gut, die dazu führt, dass wir mit der Zeitung nach dem Hund schlagen oder dass wir unserem Hund Angst machen, ohne dass er verstehen kann warum.
Wir begeben uns in einen Kreislauf der selbst erfüllenden Prophezeiungen: Ich bewerte Dinge nach dem, was ich glaube, was wahr ist.
Der Hund will nicht auf das „Sitz“ hören, unser Bauchgefühl meldet Unwohlsein, denn er könnte ja respektlos sein, Zukunftsszenarien entstehen und leiten unsere Handlung ein: ich werde deutlicher, also lauter oder sogar grob und der Hund geht einfach oder wird aggressiv. Wenn ich vorher schon gedacht habe, er macht das aus Respektlosigkeit, sehe ich darin einen Beweis dafür, dass mein Handeln rechtfertigt.
Wenn ich es vorher z.B. als „nicht verstehen was ich will“ betrachtet habe, sehe ich es nur als logische Konsequenz aus unhöflichem Verhalten von Seiten des Menschen. Die Entscheidung, wie ich ein Verhalten bewerte, wird vom Bauchgefühl getroffen. Hier schließt sich wieder der Kreis, wo Gesellschaft, Erziehung, Glaubenssätze und Werte in weniger als einer Sekunde unser Bauchgefühl erzeugen.

Die wundervolle Botschaft: Hunde sind tolle Wegbegleiter, die viel verzeihen und uns viel beibringen können! Deshalb ist es Ok, wenn wir in ihrer Erziehung Fehler machen, solange wir diese Fehler erkennen und unseren Kurs korrigieren.

Unser Bauchgefühl kann aber auch ein wundervoller Ratgeber sein und uns helfen. Aber nur, wenn wir bei uns selbst sind. Wenn wir wissen, was unsere Werte sind und uns selbst und unsere Motive auch immer mal wieder hinterfragen.

Dann bräuchte es viel weniger Hundetrainer und es gäbe viel weniger Probleme, weil wir die Kunst des Lebens mit Hund nicht mehr nur als Lehrpfad für den Hund, sondern für uns selbst sehen und gehen.
Deswegen heißt meine Hundeschule auch „Art of life“, denn dieses Bauchgefühl, dieses Lebensgefühl, möchte ich den Menschen zurückgeben.

Zwei bestimmte Lebensgrundsätze oder auch Glaubenssätze zu vermitteln ist mir dabei besonders wichtig, weil sie schon so viel abfangen und uns in vielen Lebenslagen zu einem gesunden Bauchgefühl verhelfen.

„Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu“ diese vereinfachte Form der philosophischen Weltanschauung Kants ist ein wundervoller Grundsatz.
Sie bedingt ein in den anderen hineinversetzen, ein von außen betrachten einer Situation und holt uns damit aus einer eingeschränkten Perspektive.
Wenn wir uns überlegen, was ein anderer – in diesem Fall unser Hund – in einer Situation fühlt, dann erübrigt sich oft die Frage aus welchem Motiv heraus der Hund gehandelt hat und wie wir angemessen darauf reagieren.
Wir alle haben ein, in den Grundzügen gleich aufgebautes, Gehirn, ob Canide oder Primat.
Unsere Emotionen als Handlungsantreiber sind die gleichen, ob Mensch, Hund oder Maus.
Die komplexen Denkmuster unterscheiden sich freilich, aber die treiben uns als Mensch auch viel weniger an, als Viele vermuten, wie am Beispiel des Bauchgefühls gut zu sehen.
Es ist definitiv zulässig – nein geradezu ein Muss – sich in sein Tier hineinzuversetzen und sich zu fragen „Was würde mir gerade gut tun? Warum würde ich so reagieren?“

Das Zweite, was mir selbst sehr geholfen hat, ist das Bewusstsein „Wir sind immer und zu jeder Zeit Vorbild’“. Lernen durch Nachahmen wird bei Hunden inzwischen durchaus auch bewusst eingesetzt (z.B. bei Übungen wie dem „do as i do“).

Doch viel wichtiger ist all die Zeit, in der wir es unbewusst einsetzten, also immer, in jeder Sekunde des Zusammenlebens.
Wenn Eltern rauchen und dem Kind einmal die Woche in einem ernsten Gespräch erklären, warum Rauchen gefährlich ist und dass sie es ihrem Kind verbieten, das Kind aber am Tag die Eltern 20 mal rauchen sieht und diese dabei lachen, quatschen und andere sozial positive Momente erleben, dann wird Rauchen als etwas positives abgespeichert, trotz der warnenden Gespräche.

Auf Hunde übertragen: wenn wir unserem Hund etwas beibringen wollen und uns Zeit dafür nehmen, einen Plan haben, alles gut umsetzen und der Hund die ersten Lernerfolge erzielt, ist das ganz wunderbar, doch er lernt eben nicht nur in diesen Momenten.
Lernen findet immer statt!
Also auch, wenn wir uns über den Nachbarn aufregen, wenn wir mit den Kindern streiten, wenn wir hektisch hin und her hetzen und ihn dabei mitschleifen, wenn wir auf dem Gassi unser Handy wichtiger finden als unseren Hund – das alles lehrt unseren Hund etwas.
Schimpfen und toben vor Wut ist normal (das ist es wirklich, Mensch und Hund dürfen wütend sein und diese Emotionen kundtun, das Maß ist nur entscheidend), Konflikte mit Geschrei oder sogar Gewalt zu lösen ist normal (wollen wir das wirklich?), Hektik führt immer zu Stress und Stress macht gereizt und unhöflich (wieder ein guter Moment für eine Selbsterkenntnis: wie gehe ich mit Stress und Hektik um und was für ein Vorbild bin ich dadurch?) und für das letzte Beispiel: Ich, der Hund, bin auf unseren gemeinsamen Abenteuern unwichtiger als dieser kleine metallene Kasten und was ich wahrnehme, zeigen will und fühle interessiert niemanden (das lass ich mal so stehen).

Wenn wir uns bewusst werden, dass wir durch Vorleben viel effektiver das weitergeben können, was uns wichtig erscheint, dann arbeiten wir wieder an uns selbst und formen unsere Umwelt gleichzeitig zu einem besseren Ort.

Dann merken wir auch, dass oft das hündische Verhalten ein Spiegel für unser eigenes ist und können das dann auch effektiv und nachhaltig daran etwas ändern.

Dies ist kein Text gegen herkömmliches Training. Gezieltes, schlaues und positives Training kann vielen Hunden aus für sie unschönen Verhaltensmustern helfen. Es ist ein Plädoyer dafür, nicht nur am Hund zu trainieren, sondern auch an uns selbst.
Erst wenn das Bauchgefühl mit Wissen, Empathie und Erfahrung gefüttert ist, wird es ein guter Ratgeber, vorher ist Menschen damit oft nicht geholfen.

Für ein hilfreiches, wahres Bauchgefühl und ein harmonisches Miteinander, das viele Probleme gar nicht erst entstehen lässt.

Quelle ventromedialer präfrontaler Cortex : https://psychotherapie-rupp.com/tag/woher-kommt-unser-bauchgefuhl/