Zeit geben!

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der FAIR statt fies Blogparade 2019.
Zeit geben!

Immer öfter, so erweckt es den Eindruck, wird der Traum vom Hund zum Albtraum.
Das Familienmitglied, welches Freude und Spaß in die Freizeit bringen sollte, wird zum Zeitfresser, Nervenkoster und Dauerstreitthema.

Viele Hunde zeigen Aggressionen oder Angst. Viel häufiger als früher sieht man Hunde, welche – so scheint es – Hyperaktiv sind.

Aber sind es heute tatsächlich viel mehr Hunde als früher?
Das kann ich nicht genau sagen, denn Wahrnehmung und Wahrheit gehen sehr oft auseinander.

Marek 2019 Zeit zum wachen

Ich kann es mir aber, ehrlich gesagt, vorstellen.

Sind die ganzen Menschen schuld, die nett zu ihren Hunden sind? Die Leckerchenwerfer? Haben wir inzwischen zu wenig starke Hände oder Rudelführer?

Nein, ich denke nicht.

Ich denke, eines der Hauptprobleme ist, dass wir haben keine Zeit mehr haben.

Unsere Welt ist vernetzter und schneller geworden. Daten, Werbung, Fakten, Halbwahrheiten, Onlinegeld, Wetterwarnungen, Klatsch und unendliche Möglichkeiten – alles prasselt ununterbrochen auf uns ein. Wir haben das Gefühl, kaum noch Zeit zu haben, schaffen es aber auch kaum, noch fünf Minuten auf den Bus zu warten, ohne zum Handy zu greifen und uns zu beschäftigen.
Und vieles um uns herum unterstützt diese Schnelllebigkeit: Kaffee to go, Messengerdienste, die uns jederzeit mit knappen Worten erreichbar machen. Onlinebestellungen, die am besten noch am selben Tag ankommen; Apps, die jede kurze Wartesituation überbrücken, und noch einiges mehr.

Alles muss immer schnell gehen.
Wir erwarten es so.
Und da ist dann der Hund.

Ein Lebewesen, das sich so unglaublich an den Menschen angepasst hat, dass wir eine besondere Verbindung eingehen. Ein Lebewesen, das lernwillig ist und uns sehr zugetan. Weshalb es wirklich versucht mitzuhalten; bei unseren Lebenswandel, unserer Schnelligkeit. Doch alles hat Grenzen.
Grenzen, die wir immer öfter überschreiten.
Wir geben unseren Hunden keine Zeit mehr.

Marek 2015 Junghundzeit

Im großen Rahmen: Zeit, zu lernen und anzukommen

Ob Welpe, Tierschutzhund oder aus zweiter Hand – bringen wir ein Hund in unser Leben, sind wir voller Freude, voller Erwartungen und voller wichtiger Dinge, die unser Hund möglichst schnell lernen soll, damit alles harmonisch bleibt. Vielleicht wissen wir auch, dass es da ein Verhalten gibt, das für uns so nicht akzeptabel ist und an dem wir voller Elan mit dem Training beginnen.
Das alles ist an sich nicht verkehrt oder gar problematisch.

Das wird es erst, wenn uns auch hier das Gefühl für die Zeit verloren geht.

Durch diverse TV-Sendungen, durch unser immer hektischeres Leben, verlieren wir das Gefühl dafür, dass ein Lebewesen, das nicht diesen Einflüssen unterliegt, damit nichts anfangen kann und dem auch nicht gerecht werden kann.
Ein Hund, der in ein völlig neues Leben gesetzt wird, hat unendlich viel zu verarbeiten. Er konnte sich nicht vorher darauf einstellen und sich keine Gedanken dazu machen. Uns ist unsere Wohnung vertraut und einladend. Für unseren neuen Mitbewohner kommen zu all dem Neuen – Ort, Objekte, Gerüche und Geräusche – auch noch wir dazu. Ebenfalls ein Lebewesen mit Emotionen, Bedürfnissen und Wünschen.
Klingt viel. Ist viel!
Wenn wir jetzt sofort damit beginnen, längere Spaziergänge mit Leinenführigkeitstraining, Gehorsamkeitsübungen und all dem, was wir als wichtig erachten zu starten, dann ist das gut gemeint. Oft bewirkt es jedoch genau das Gegenteil von dem, was wir erreichen wollten.
Durch unsere vielen Anregungen und Aufforderungen unsererseits lernt unser Hund durchaus erst mal, was wir wollen, hat dabei aber nie die Zeit, uns wirklich kennenzulernen. Eine Beziehung entsteht dennoch – natürlich!
Allerdings eine, die auf agieren unsererseits und reagieren auf Seiten des Hundes beruht. Die Zeit, sich seine eigenen Gedanken zu machen, ein paar Schritte auf uns zu zu gehen, Vorschläge zu machen um zu schauen, wie wir reagieren, daraus Schlüsse zu ziehen und uns so wirklich kennenzulernen, hatte unser Hund nicht.
Nicht selten baut sich so ein immer höherer Grundstress auf. Lernen, agieren, Neues – das alles braucht Pausen und Schlaf, die sich unser neuer Hund aber nicht nimmt. Er hat ja noch gar nicht begriffen, dass er auch Bedürfnisse äußern kann. Er ist da, er macht mit, doch irgendwie wird er immer fahriger, unkonzentrierter und unschöne Eigenschaften kommen zu Tage.
Wie etwa das Bellen in der Nacht, oder bei jeder Kleinigkeit. Plötzlich ängstlich zu reagieren obwohl dieselbe Situation vorher kein Problem dargestellt hat. Oder auch, auf einmal Ressourcen zu verteidigen, etc. …
Das alles sind Anzeichen einer Überforderung.
Nun rächt es sich, dass man gleich so viel von ihm gewollt hat. Die Kapazitäten des Hundes kommen nicht mehr hinterher und dem hohen Grundstress muss immer schneller und öfter Luft gemacht werden.
Durch die sehr einseitig geprägte Kennenlernphase wissen viele Hunde dann auch nicht, wie sie es uns etwas begreifbar machen sollen oder sich selbst helfen können und nehmen sich letztlich das Ventil, das ihnen am besten liegt; sie beginnen zum Beispiel mit dem Bellen oder zeigen ein anderes, für den Menschen meist nicht so angenehmes, Verhalten.
Das alles lässt sich verhindern, wenn wir unseren Hunden von Anfang an mehr Zeit einräumen. Mehr Zeit, uns kennenzulernen. Mehr Zeit, in der wir uns ihm etwas anpassen, damit unser neues Familienmitglied erst mal wieder zu sich selbst finden kann und uns kennen lernen kann.
Danach schauen wir, was wirklich wichtig ist für unseren entspannten Alltag. Was brauchen wir wirklich und was entspringt nur unserer Vorstellung von “so muss es sein“? Und dann erst folgt alles andere – später, zur rechten Zeit.

Marek 2015 Zeit zum entdecken

Im kleinen Rahmen: Zeit, eine Situation zu erfassen und Handlungsoptionen zu bedenken

Nicht nur beim Zusammenfinden haben wir inzwischen oft ein Zeitproblem, sondern auch in vielen kleinen Situationen des Alltags.
Ob wir eine volle S-Bahn betreten, als letzter in einen Raum mit einem großen Meeting kommen, oder uns in den Warteraum einer Behörde setzen – überall lassen wir automatisch unseren Blick schweifen, verlangsamen dafür kurz unseren Schritt oder bleiben kaum merklich eine Sekunde stehen.
Darüber denken wir nicht nach, sondern erfassen ganz automatisch mit unserem Sehsinn die Situation, um unsere nächste Handlung abzuwägen: welchen Sitzplatz wir ansteuern, ob wir uns neben den netten Kollegen setzen oder einfach nur abschätzen, wie viel Zeit wir wohl mit Warten verbringen müssen. Mit den gesehenen Informationen agieren wir.
Hunde haben nicht den gleichen Sehsinn wie wir. Sie können zwar auch gut sehen, ihre Wahrnehmung läuft allerdings zu einem großen Teil über ihre Nase.
Das Bedürfnis, eine Situation zu erfassen um passend zu agieren, haben sie natürlich auch. Das hat etwas mit dem persönlichen Sicherheitsgefühl zu tun. Dem Gefühl, über eine Situation ein gewisses Maß an Kontrolle zu haben. (Stichwort “erlernte Hilflosigkeit“, dazu gibt es auch einen Artikel in der Blogparade).
Je nach Alter, persönlicher Vorliebe, Unsicherheit und noch vielen Faktoren mehr, braucht ein Hund mal kürzer, mal länger für diesen Prozess. In vielen Fällen jedoch länger als ein Mensch, der sich hauptsächlich nur seiner Augen bedient.
In Situationen wie in der S-Bahn, im Tierarztpraxiswarteraum oder beim Betreten eines volleren, öffentlichen Platzes, agieren wir oft zu schnell. Wir geben unserem Hund nicht genug Zeit, sondern gehen nach unserer eigenen Wahrnehmung und steuern das nächste Ziel an. Wir agieren und unser Hund kann nur noch reagieren. Mitunter mit schwankender Leinenführigkeit, plötzlichem Bellen oder scheinbarem Ungehorsam.

Mit dem Bewusstsein um die Zeit, die das Erfassen einer Situation für unseren Hund braucht und wenn wir ihm ein paar Sekunden geben, um sich in der Hektik des Alltags zurechtzufinden, ist hier unserem Vierbeiner schon sehr geholfen. Und uns auch! Denn diese Sekunden ersparen uns mitunter peinliche Minuten später.
Auch beim Gassigang für und mit unserem Gefährten verfallen wir mitunter in die Zeitfalle. Wir haben meist eine Strecke im Kopf und eine Zeitplanung dafür. Und selbst wenn nicht:Weil das Verständnis vom Gassigehen eben “gehen“ bedeutet, werden wir schnell ungeduldig. Bleibt unser Hund stehen, um etwas zu schauen, laufen wir schon mal weiter. Schnuppert er die neusten Nachrichten am Nosebook-Tree, kommt nach Gefühlten 30 Sekunden, (aber realistischen fünf Sekunden) bereits die Aufforderung “weiter!“.
Warum?
Natürlich gibt es Situationen, in denen wir wirklich unter Zeitdruck stehen und an ein bestimmtes Ziel wollen. Das ist völlig in Ordnung. Doch sind die meisten unserer Spaziergänge nicht eigentlich als Gänge für unseren Hund gedacht, an denen er sich erfreuen soll? Statt möglichst schnell eine Pflicht-Strecke abzulaufen?
Stellen wir uns vor, wir hätten einen spannenden Artikel zu lesen und nach den ersten zwei Absätzen wird uns das Blatt weggerissen und ein neues hingehalten. Dieses ist auch interessant und wir fangen wieder an zu lesen. Und genau dieses Szenario wiederholt sich, immer und immer wieder. Wir bekommen viele Informationen aber nie im Ganzen und können nicht zu ende denken, bevor schon die nächste Info gereicht wird, die uns durchaus auch interessiert.
Wie fühlt sich das an? Welche Grundstimmung erzeugt das in uns? Wenn wir einer solchen Situation täglich ausgesetzt wären, wie stünde es dann um unseren Stresspegel, um unsere Möglichkeit, besonnen und freundlich zu agieren?
Das ist es, was viele unserer Vierbeiner erleben.
Zeit zu geben fängt im Kleinen, bei jedem gemeinsamen Draußensein an.
Passen wir uns wieder dem Tempo unseres Hundes an, anstatt unsere Alltagsgeschwindigkeit durch zu ziehen, bringt das für uns alle Vorteile. In der Entspannung, der Nervenleistung und dem Wohlbefinden.

Und wer jetzt denkt, “mein Hund ist aber noch viel hektischer, regelrecht hyperaktiv, ich muss ihn draußen immer bremsen…“ vielleicht hat er sich auch nur inzwischen angepasst?
Vielleicht ist hier die Lösung nicht das Üben der Leinenführigkeit, sondern das Wiederentdecken der Möglichkeit, langsam zu machen?
Die Zeit zu haben, zu schauen, zu schnuppern und zu verarbeiten.